Anmerkungen zu unserer Ortsgeschichte während der NS-Zeit

Veröffentlicht am 10.05.2015 in Kommunalpolitik

Eine Betrachtung des Alltagsverhaltens unter dem Nationalsozialismus aus sozialpsychologischer Sicht oder

Warum braucht Bad Schönborn den Lernort Kislau – und Stolpersteine?

Stolpersteine sind öffentlich sichtbare Erinnerungszeichen. Sie gehören zum kollektiven Gedächtnis einer Gemeinde und integrieren folgenreiche Ereignisse der Vergangenheit in das historische Bewusstsein der Gegenwart. Dabei sind auch negative Erinnerungen Teil einer lebendigen Ortsgeschichte.

Im Folgenden unternehme ich den Versuch einer ehrlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte Deutschlands und speziell unserer Heimat während der NS-Zeit. Dabei lehne ich mich i. W. an das Plädoyer des Soziologen Harald Welzer „Für eine Modernisierung der Erinnerungs-und Gedenkkultur“ an.

Sobald es um die Frage der individuellen und kollektiven deutschen Schuld und Verantwortung während der NS-Zeit geht, stellt sich auch 70 Jahre danach die zentrale Frage: „Wie konnte sich eine moderne Gesellschaft des christlich-abendländischen Kulturkreises in kürzester Zeit in eine radikale Ausgrenzungsgesellschaft entwickeln, die in der Deportation und Tötung der deutsch-jüdischen Bevölkerung endete?“ Und weiter stellt sich die Frage, warum sich unsere Eltern und (Ur-)Großeltern „dieser geschichtlichen Verantwortung kaum stellten und sie diesen tiefgreifenden Gesellschafts- und Wertewandel lediglich indifferent zur Kenntnis nahmen“ (zit. Welzer 2011,  S. 4).

Die Antwort lautet: Weil Scham, Schuld, Reue und Bekenntnis angesichts der begangenen Verbrechen selten ein Bestandteil der individuellen Erinnerung unserer Eltern und Großeltern wurden. Vielmehr tauchten in der familiären Erinnerungstradierung Verharmlosung und angebliches Nichtwissen auf. Beteiligte Familienmitglieder wurden als Opfer oder gar Helden verklärt, Täter erklärten sich zu Verführten, Mitläufer zu Opfern, sie erfanden erklärende Entschuldigungen, indem sie die Nazis als Verführer des gutgläubigen deutschen Volkes darstellten. Sie entzogen sich dadurch der Verantwortung,  indem sie eben dieses Verbrechen externalisierten. Verantwortlich waren eben  „die Nazis“, „die SS“, „die KZ-Schergen“, „die Verwaltung“, „die Bürgermeister“, „die 150-Prozentigen“. Durch solche unscharfen Gruppenbezeichnungen lässt sich nie genau sagen, wer denn damit  eigentlich gemeint war (vgl. Welzer 2011, S. 3-5).

„Im Angesicht solcher Referenzfiguren der Täterschaft bekommen die sogenannten Zuschauer, Mitläufer und  Verführten eine vergleichsweise harmlose Rolle zugewiesen. Ihr Fehlverhalten beschränkt sich  einzig darauf, nicht genug eingegriffen oder Schlimmes nicht verhindert zu haben. Doch bei der Etablierung einer Ausgrenzungsgesellschaft, in der Täter und Opfer einen sozialen Zusammenhang bilden, gibt es keine Zuschauer oder Unbeteiligte. Es gibt nur Menschen, die gemeinsam, Jeder auf seine Weise, der Eine engagierter, intensiver, der Andere skeptischer und gleichgültiger, eine gemeinsame soziale Wirklichkeit von Tätern und Opfern herstellen. (zit. Welzer 2011, S. 4-5)

Diese Zustimmung zum System, in der die Bevölkerungsmehrheit aktiv und willentlich die Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung begrüßt, befördert und davon profitiert hat, wurde auch mit unterstützt, weil ALLE am „Projekt Tausendjähriges Reich“ teilhaben wollten und durften. So war es auch  für die Bürger in Bad Schönborn vollkommen „normal“, dass sie im Zuge der „Arisierung“ Geschäfte übernahmen, die zuvor ihren jüdischen Besitzern weggenommen worden waren, oder in den Häusern ehemaliger jüdischer Bewohner wohnten und deren zurückgelassenen Hausrat übernahmen. Nicht wenige erlebten ab 1940 die Deportation der letzten jüdischen Einwohner ohne jegliches Unrechtsempfinden. „Die Judenverfolgung behinderte die Zustimmungsbereitschaft der meisten nichtjüdischen Deutschen zum Nationalsozialismus nicht, sondern förderte sie.“ (zit. Welzer 2011,S.5).

Sicher liegt das u. a. an einem tief in der europäischen Geschichte verwurzelten religiösen Antisemitismus, der von den  Kirchen nicht nur geduldet, sondern von ihnen auch offiziell und inoffiziell aktiv vertreten wurde.

Entgegen der von Klaus Gaßner vertretenen Ansicht (Ortschronik II) kann man  die Ortsgeistlichkeit von Mingolsheim und Langenbrücken von diesem Befund nicht aussparen. Ihr „Widerstand“ gegen das NS-Regime beschränkte sich einzig darauf, ihren Kirchenmitgliedern Schutz bei der Ausübung ihres Glaubens zu bieten oder z. B. wegen der „Versetzung eines Kruzifixes“ von der Kanzel zu wettern.

Beim Beten für baldigen Frieden im Gottesdienst scheint es doch  eher um die eigenen Soldaten gegangen zu sein, während kein Wort über das Leid der jüdischen Mitmenschen verloren und bis heute kein öffentliches Schuldbekenntnis abgelegt wurde. Von einem Widerstand der Ortsgeistlichkeit zu sprechen kommt meines Erachtens einer Verhöhnung der wirklichen Widerstandskämpfer gleich – auch derer aus Kirchenkreisen.

Der Nachkriegsgeneration ging es vor allem um das Betrauern des eigenen Leids und der eigenen Verluste und weniger um die Erinnerung an die Taten, die unter dem NS-Regime begangen wurden.  Man suchte die Schuld nicht vornehmlich bei den Akteuren des NS-Regimes und bei der Folgsamkeit der Bevölkerung, sondern – wie Hannah Arendt einmal spöttisch bemerkte: „In den Ereignissen, die zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies geführt hatten.“ So bleibt  bis heute für uns Nachgeborene weiterhin die Forderung bestehen, sich der geschichtlichen Verantwortung zu stellen.  

Bei der diesjährigen Gedenkfeier in Ausschwitz forderte der Ausschwitz-Überlebende Roman Kent: “Wir müssen uns erinnern.“ Und er fügte hinzu:“ Wenn ich könnte, würde ich ein elftes Gebot verfügen: ‚Du sollst kein unbeteiligter Zuschauer sein.’“ Genau hier muss laut Harald Welzer eine erinnerungskulturelle Programmatik anknüpfen:

Lernen am historischen Gegenstand bedeutet, ein Sensorium für die Potentiale zum Guten oder Schlechten zu entwickeln und ein Unterscheidungsvermögen dafür zu haben, welche Optionen unter gegebenen Bedingungen human und welche gegenmenschlich sind, sowie dafür, dass sich  nicht nur böse Menschen zu gegenmenschlichem Verhalten entscheiden, sondern auch die vermeintlich Guten. Wie entstehen Ausgrenzungsgesellschaften und Genozide? Wie erkennt man antisoziales Verhalten und gegenmenschliche Praktiken? Was ist richtig und falsch? Welche Verhaltensweisen sind tolerabel und welche sind inakzeptabel? Welche Bezugspunkte gibt es in der Gegenwart? Wie werden demokratische Verkehrsformen erlernt und eingeübt? 
In der Auseinandersetzung mit diesen Fragen liegt heute  die Herausforderung der politischen Bildung und Menschenrechtserziehung.

Einer der Orte, an denen man sich künftig mit all diesen Fragen auseinandersetzen kann, wird der Lernort Kislau sein, wo demokratieorientierte, bürgergesellschaftliche Persönlichkeitsbildung vermittelt werden soll. „Ewige Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit“, so hat der aus Baden stammende Jurist Robert Kempner zu Recht festgestellt. Kislau ist der Ort, wo diese Wachsamkeit  vermittelt werden und zugleich die Forderung des großen  Sozialpsychologen Horst-Eberhard Richter in die Tat umgesetzt werden kann: „Bewahren wir uns das Erschauern vor dem Geschehenen, das uns nie verloren gehen darf, damit wir uns die Widerstandskraft unserer Menschlichkeit erhalten.“ Und genau aus diesem Grund benötigen wir auch in Bad Schönborn Stolpersteine gegen das Vergessen.

Literatur:
Giesecke, Dana und Welzer, Harald: Das Menschenmögliche. Hamburg 2012.
Welzer, Harald: Für eine Modernisierung der Erinnerungs-und Gedenkkultur. In: Gedenkstättenrundbrief Nr. 162 (2011), S. 2-9.
Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline: Opa war kein Nazi. Frankfurt am Main 2002.
Gaßner, Klaus: Ortschronik Bd.II, (2015), S.302ff

Foto:
„Stolperstein Else Liebermann von Wahlendorf Berlin Budapester Strasse“ von Axel Mauruszat - Eigenes Werk. Lizenziert unter Attribution über Wikimedia Commons - http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stolperstein_Else_Liebermann_von_Wahlendorf_Berlin_Budapester_Strasse.jpg#/media/File:Stolperstein_Else_Liebermann_von_Wahlendorf_Berlin_Budapester_Strasse.jpg

Angelika Messmer


Der SPD-Ortsverein und die SPD-Gemeinderatsfraktion bedanken sich bei Angelika Messmer für diesen interessanten, informativen und engagierten Beitrag zur Ortsgeschichte auf unserer Homepage..

HS

 
 

Homepage SPD Bad Schönborn

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Anmerkungen zur Ortsgeschichte

Auch ich bedanke mich bei Angelika für diesen mutigen Beitrag! Daher ist es sehr wichtig immer und immer wieder zu ERINNERN! Auch wenn manche Menschen meinen - es nicht mehr hören zu können - wehret den Anfängen! Gudrun Heller

Autor: Gudrun Heller, Datum: 15.05.2015, 16:51 Uhr


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